Hilfe! Hilfe! Variantenkonfiguration!

Blinkerhebel

Diese Woche war ich beim Tekom Feierabendgespräch zum Thema  Variantenkonfiguration, Produktkonfiguration, Losgröße 1, One-Piece-Flow, Ein-Stück-Produktion oder welches Schlagwort Sie da auch immer hören wollen.

Herr von Gillhaußen von der fct hielt einen interessanten Vortrag. Das Problem mit der Variantenkonfiguration erläuterte er am Beispiel der Sonderausstattung im Auto, konkret an seinem Fernlichtassistenten. Für Ihn sind die wichtigsten Zutaten für konfigurierbare Inhalte:

  • die Modularisierung von Inhalten und
  • die Beschreibung der Module mit Metadaten.

Und da hat er Recht! Wie die Module gebildet würden und welche Größe die haben sollten? Das sei kundenspezifisch.  – Und auch da hat er Recht! Trotzdem kam ich ins Grübeln, wie das denn jetzt eigentlich ist. Und ob man da nicht doch etwas dazu sagen kann.


Also lassen Sie mich mal  theoretisieren. Und ich brauche da ein paar Schritte bis ich zur Modulgröße komme.

Schritt 1: Das Maximaldokument

Ich denke, es ist Best-Practice für konfigurierbare Anleitungen ein sogenanntes Maximaldokument (auch: 150%-Dokument) zu erstellen. In diesem Dokument sind die Inhalte aller möglichen Varianten enthalten. Um bei Herrn von Gillhaußens Beispiel zu bleiben: Im Maximaldokument ist also sowohl der Blinkerhebel mit Fernlichtassistent als auch der Blinkerhebel ohne Fernlichtassistent beschrieben. Je nach Fahrzeugkonfiguration wird dann eine der Beschreibungen heraus gefiltert.

Das ist wirklich sehr straight-forward. Und das Konzept ist schon lange von den Stücklisten bekannt. Dort wird nämlich in der Produktentwicklung die sog. Maximalstückliste (engl.: Super-BOM) erstellt. Erst der Kundenauftrag löscht dann per Variantenkonfiguration die nicht benötigten Teile. Übrig bleibt, was für den Kundenauftrag nötig ist.

Maximalstückliste und Maximaldokument: Ihr Auto hat keinen Fernlichtassistenten
Maximalstückliste und Maximaldokument: Ihr Auto hat keinen Fernlichtassistenten

Natürlich ist der Begriff des Maximaldokuments  irreführend. Das muss gar nicht ein einziges langes Dokument sein. Viele verlinkte Schnipselchen erfüllen denselben Zweck. Das hängt vom Redaktionssystem ab.

Schritt 2: Die Metadaten

Jetzt habe ich also alle Teile meines Maximaldokuments. Mit welchen Metadaten muss ich denn jetzt die Beschreibung des Fernlichtassistenten versehen?

Erster Versuch: Eine eigene Materialnummer

Hmm. Wie wäre es, wenn ich einfach jedem Modul der Beschreibung eine Art Materialnummer zuweisen würde. Meine Stückliste enthält ja alle Materialien, die ich zur Produktion benötige. Da schreibe ich jetzt einfach noch alle Materialnummern für die Dokumentation drauf.

Wenn mein Produkt ausgeliefert wird, gehe ich ins Maximaldokument und suche alles Nötige raus. Fertig.


Dieser Ansatz hat eigentlich wirklich Charme.


Dieser Ansatz hat eigentlich wirklich Charme. Warum machen das nicht alle so? Eine gute Frage! Ich denke, das liegt hauptsächlich daran, dass der Produktentwicklungsprozess oft weitgehend getrennt läuft von der Technischen Dokumentation.

Tatsächlich gibt es aber Menschen, die so etwas ähnliches tun. Und zwar wenn Software dokumentiert wird. Wenn es Sie interessiert: Schauen Sie doch mal bei Docs-Like-Code vorbei. Dort geht es nicht um Stücklisten und Materialnummern. Die Dokumentation wird aber direkt in der Konstruktion – also im Softwareentwicklungsprozess – erstellt und dann mit den selben Tools und Prozessen verarbeitet.

Zweiter Versuch: Die VIN-Nummer

Gehen wir also davon aus, dass die Technische Dokumentation der Produktentwicklung irgendwie nachgeschaltet ist.

Für Losgröße 1 will ich fahrzeugspezifische Dokumente. Da könnte ich ja einfach die entsprechende Vehicle Identify Number (“VIN-Nummer”) als Metadatum an die Beschreibung des Fernlichtassistenten hängen. Um dann die Doku für ein spezielles Fahrzeug zu publizieren, muss ich nur nach der VIN-Nummer filtern.


Toll? – Nein, Mist!


Hört sich einfach an. Toll? – Nein, Mist! Da muss ich ja mit jedem gebauten Fahrzeug die Metadaten meiner Inhalte erweitern. Das ist viel zu viel! Das kann keiner verwalten!

Dritter Versuch: Die Materialnummer der Baugruppe

Und was machen wir jetzt? Ich denke die üblichste Lösung ist folgende: An die Beschreibung des Blinker-Hebels schreiben wir als Metadatum einfach die Teilenummer des Hebels oder der entsprechenden Baugruppe.

Beim Publizieren des Dokuments für mein speziell konfiguriertes Auto nehme ich also das Maximaldokument und filtere gegen meine Stückliste. Genauer: Ich filtere mit jeder einzelnen Position der Stückliste.

Das ist jetzt gleich viel besser als nur mit der VIN! Der Handlungsbedarf in der Dokumentation entsteht jetzt also erst, wenn ein anderes Material verbaut wird.

Schritt 3: Die Stückliste

Stückliste, Stückliste, Stückliste, immer Stückliste! Aber heidenei welche denn? Konstruktionsstückliste? Fertigungsstückliste? Servicestückliste? Und was ist da der Unterschied?

Also hier kommt ganz grob meine eigene Definition (Sie finden sicher leicht andere bei Wikipedia oder so):

  • Die Konstruktionsstückliste wird von der Entwicklung/Konstruktion erzeugt und enthält alle Materialien und Baugruppen, die zur Fertigung eines Produkts nötig sind.
  • In der Fertigungsstückliste ist zusätzlich die Logistik berücksichtigt. Je nach Werk, je nach Zulieferer können unterschiedliche Teile verbaut werden.
  • Die Servicestückliste schließlich orientiert sich an Reparatur und Wartung: Welche Module können ausgebaut, gewartet, repariert und eingebaut werden? Und das hängt natürlich auch damit zusammen, welche Module es als Ersatzteil gibt.

So. Jetzt fehlt uns nur noch der Kundenauftrag. Im Kundenauftrag steht nämlich drin, ob das Auto jetzt mit oder ohne Fernlichtassistent gebaut wird. Wie oben schon beschrieben, benutzen wird den Kundenauftrag als Filter um aus der Maximalstückliste eine konkrete Stückliste zu generieren. Manchmal heißt die konkrete Stückliste dann die “Auftragsstückliste”.

Schritt 4: Die Sache mit den Änderungen

Welche von diesen Stücklisten soll ich denn jetzt nehmen? – Hm. Für Werkstattliteratur liegt die Servicestückliste nahe (falls Sie eine haben). Was aber tun bei einer Bedienungsanleitung?

Also ich würde sagen: Nehmen Sie von den oben erwähnten Stücklisten: Keine.

Wenn ich ein Auto kaufe, dann kaufe ich Funktionen. Ich kaufe die Sitzheizung und den Fernlichtassistent (oder eben nicht). Das Maximaldokument enthält also je ein Kapitel zur Sitzheizung und zum Fernlichtassistent. Genauso enthält der Kundenauftrag einen Eintrag zur Sitzheizung und zum Fernlichtassistent. So gesehen könnte man den Kundenauftrag auch “Funktionsstückliste” nennen.

Kundenauftrag: Bitte keinen Fernlichtassistenten. Aber ich hätte gerne allzeit einen warmen Hintern.
Kundenauftrag: Bitte keinen Fernlichtassistenten. Aber ich hätte gerne allzeit einen warmen Hintern.

Jetzt im Ernst? – Ja! Nehmen Sie sich mal Ihre Fertigungsstückliste. Dort ändert sich quasi dauernd etwas. Ein Träger wird verstärkt um Vibration zu vermindern, der Blinkerhebel wird von einem neuen Lieferanten gebaut und wegen einer Änderung der Zulassung in den USA muss ein anderer Elektromotor verbaut werden. All das verursacht Änderungen in der Stückliste.  Was aber macht das mit meinen Metadaten?


Änderungen sind böse.


Sie merken schon: Änderungen sind böse. Also zumindest solche Änderungen, die eine Anpassung Ihrer Metadaten nach sich ziehen. Lassen Sie uns aber folgendes unterscheiden:

  • Dokumentationsrelevante Änderungen: In der Bedienungsanleitung sind Produktänderungen dokumentationsrelevant, wenn sich dadurch die Bedienung oder das Aussehen ändert. Dokumentationsrelevante Änderungen führen immer zur Änderung von Inhalten.
  • Dokumentationsneutrale Änderungen: Naja. Genau das Gegenteil eben. Vergessen aber Sie nicht, dass auch dokumentationsneutrale Änderungen Aufwand erzeugen. Und zwar in der Verwaltung, bzw. in den Metadaten. Irgendwo müssen Sie ja hinterlegen, dass die Beschreibung des alten Blinkerhebels auch für den neuen passt.

Ich würde also folgendes raten:

  1. Achten Sie bei der Auswahl Ihrer Stückliste darauf, wie oft sie sich ändert.
  2. Bauen Sie eine Abstraktionsschicht, die Ihren Aufwand für dokumentationsneutrale Änderungen minimiert.

Schritt 5: Die Modulgröße

So. Jetzt kennen wir unser Maximaldokument und wissen auch, nach welcher Stückliste wir filtern. Wie wählen wir dann die Modulgröße?

Wir brauchen ein Beispiel! Leider habe ich kein Auto mit Fernlichtassistent (das sehen Sie schon am großen Bild ganz oben). Wenn ich im Internet suche, finde ich z.B. eine Beschreibung,in der die Bedienung eines Fernlichtassistenten in 2 Bildern, 5 Bullet-Points, ein paar Hinweisen und etwas Einleitung erklärt wird.

Wir starten mit unserer Anleitung. Da die Sichtbarkeit der gesamten Beschreibung davon abhängt, ob es einen Fernlichtassistenten gibt oder nicht, liegt es wirklich sehr nahe, das alles in ein Modul zu packen.

Soweit so gut. Jetzt kommt die erste Änderung: Im neuen Cabrio hat der Hebel jetzt drei Positionen anstatt zweien. An zwei Stellen im Text muss jetzt “ziehen Sie den Hebel in Position -2-” ersetzt werden durch “ziehen Sie den Hebel in Position -3-” .


Was nun?


Was nun? Wie würden Sie entscheiden?

  • Legen Sie ein komplett neues Modul an? Copy-Pasten Sie alles bis auf die zwei Zweien?
  • Steuern Sie die beiden Sätze einzeln an, sodass je nach Fahrzeugkonfiguration entweder der Satz mit der 2 oder der mit der 3 kommt?
  • Oder Steuern Sie nur die Zahl?

Also ich habe da einen klaren Favoriten: Lassen Sie beisammen was inhaltlich (!) zusammengehört und wählen Sie Alternative 1! Spätestens dann, wenn weitere Alternativen und Optionen dazukommen, wissen Sie das zu schätzen.

Nicht überzeugt? Stellen Sie sich vor, Sie wählen Alternative 2. Dann gibt es aber plötzlich eine Anpassung für die USA: Sie können den Hebel nur dann in Position 3 ziehen, wenn der Assistent zuvor aktiviert wurde. Bedenken Sie aber bitte, dass das nur für das Cabrio gilt. Steuern Sie dann immer noch auf Satzebene? Das kapiert dann wirklich niemand mehr.

Fazit

Losgröße 1 in der technischen Dokumentation abzubilden ist nicht einfach. Und ich habe viele Fragen noch nicht einmal angeschnitten. Ich denke aber, dass es zumindest nicht falsch ist, zunächst über das Maximaldokument nachzudenken und dann die Metadaten zu betrachen: Wo kommen die her? Was sagen sie aus? Und welcher Dynamik unterliegen sie? Und den Ausflug zur Modulgröße habe ich eigentlich nur gemacht, weil Herr von Gillhaußen diese Frage so betont hat.

Vielen Dank für Ihren Vortrag, Herr von Gillhaußen. Und vielen Dank an alle Teilnehmer für die interessanten Diskussionen. Wollen Sie weiter diskutieren? Wie wärs mit hier ↓ ?